CONCOURS GÉNÉRAL DES LYCÉES – SESSION DE 2009
(Classes terminales ES, L et S)
Durée: 5 heures
L’usage de tout dictionnaire est interdit
Familientreffen
Tante Gertrud besucht Familie Reger. Frau Gerda Reger, Gertruds Schwester, und ihr Mann haben zwei Kinder, Robert und Nettchen.
Einmal im Jahr kam Tante Gertrud, die Absenderin der gelben Pakete, Vertreterin der Familie im anderen Teil des Landes und überbringerin von Grüßen, Geschenken und der Sorge, die Schwester gefangen zu wissen hinter Zäunen und Stacheldraht – eine Tragödie, in kummervollen Briefen hundertfach beklagt. Robert kutschierte die Koffer der Tante mit dem Handwagen vom Bahnhof nach Hause, dicht hinter dem Schwesternpaar, das, glücklich untergehakt (1) und schwatzend, auf dem Weg zwischen den Kastanien dahinwandelte.
Wunderbar helle Tage kündigten sich an, erfüllt von dem lebhaften Lachen der beiden Schwestern, den Streitgesprächen bei Tisch und den geselligen Abenden, zu denen Robert und Nettchen aufbleiben durften.
Hingestreut wie von einem Goldregen lagen die Utensilien der Tante auf Vertikos und Konsolen, Döschen mit glänzenden Deckeln, feingeschnittene Flakons, Perlenketten und Spangen für ihr Haar, das blond war, mit einem silbernen Schimmer darin – ein Lichterengel, der Robert und Nettchen beschenkte, Weihnachten mitten im Jahr.
(…) Sie lobte das Essen, deliziös, die Landschaft, bezaubernd, und die Kinder, so reizend – und sie sprach mit solch einer Selbstverständlichkeit von ganz Deutschland, was ganz Deutschland tut, denkt und meint, dass Reger verstimmt die Stirn in Falten legte. Ja, sie scheute sich nicht, ganz Deutschland für sich in Anspruch zu nehmen, wenn es galt, ihrer Meinung Nachdruck zu verleihen. Urlaubsfotos machten die Runde, der Gardasee, Nizza und sogar Afrika. Die Welt war groß, und die Tante kannte sich darin aus. Kanada, dort wohnte ein Freund der Familie… Im letzten Herbst waren sie dort gewesen. Einfach fas-zi-nie-rend!
Frau Reger wurde still.
Robert interessierte sich mehr für die Palmen und Kokosnüsse, betrachtete einen Onkel, den der Sozialismus wenig reizte, und einen schlaksigen Kerl mit Taucherausrüstung (2), ein Cousin, der an einer bedauerlichen Rechtschreibschwäche litt. Ja, er litt, der arme Junge, ein Unglück, wo er doch sonst voller Begabungen war. Diese Lehrer! Er kann nicht richtig schreiben! dachte Robert. Unfassbar! Eine Krankheit! Die Tante, mit dem Talent zu Seufzern und großen Gesten, meinte: Ach Gerda, ich beneide dich!
Robert verstand nicht. Die Tante zog ihn auf ihre Knie: Wie groß du geworden bist. Schon zwölf! Wünsch dir was!
Reger, vorangekommen im neuen Staat, dozierte (3) mittlerweile vor Studenten, künftigen Lehrern, am Institut in der Kreisstadt, gab ihnen weiter von seinem Wissen, seinen Erkenntnissen und Erfahrungen; er dozierte auch am Familientisch, auf- und herausgefordert von der streitbaren Schwägerin, die seine nach oben offene Karriere mit Anerkennung honorierte.
Halb offen, berichtigte seine Frau. Reger, der sich von den hochgezogenen Augenbrauen der Schwägerin aufgefordert sah, klärte voller Unbehagen auf, über die Bedeutung von Herkunft und Familie und-gewisser behindernder Bande (4)…
Briefe, Postkarten und Pakete aus dem Westen, bemerkte Frau Reger. Und Besuche, fügte die Tante trocken hinzu.
In diesem Punkt war der neue Staat empfindlich, zu Recht im allgemeinen, wenn man die Bewahrung des historischen Fortschritts in Betracht zog, zu kleinlich jedoch im besonderen, wie Reger eingestand, der den Besuch der Schwägerin bei den staatlichen Stellen anzuzeigen verpflichtet gewesen war. Karriere hin, Karriere her – Gertrud wird immer zu uns kommen dürfen, rief Frau Reger. Wir werden uns nicht von ihr distanzieren, niemals!
Gunter Groß, Wo Janus wohnt, Debüt-Verlag, 1996, S. 33-35
(1) untergehakt: bras dessus, bras dessous
(2) ein schlaksiger Kerl mit Taucherausrüstung: un gars dégingandé en tenue de plongée
(3) dozieren: donner des cours
(4) das Band(e): le lien
A. Questions:
Les candidats se conformeront au nombre de mots indiqué pour chaque question.
1. Inwiefern freut sich Familie Reger über Tante Gertruds Besuch? (100 Wörter)
2. Charakterisieren Sie die Welt, in der Tante Gertrud lebt! (100 Wörter)
3. Wie nimmt Reger seine Schwägerin Gertrud wahr? (150 Wörter)
4. Weiche Rolle spielt Frau Reger in dieser Konstellation? (150 Wörter)
5. Analysieren Sie die Erzählperspektive(n) in den Zeilen 25 (« Robert interessierte sich mehr… ») bis 33 (« Schon zwölf! Wünsch dir was! »)! (150 Wörter)
6. Inwiefern illustriert dieser Text ein Kapitel der deutschen Geschichte? (150 Wörter)
B. VERSION
Traduisez le texte de la ligne 1 (« Einmal im Jahr… ») jusqu’à la ligne 10 (« zu denen Robert und Nettchen aufbleiben durften. »)