COMPOSITION EN LANGUE ALLEMANDE 2010

CONCOURS GÉNÉRAL DES LYCÉES – SESSION DE 2010

(Classes terminales ES, L et S)

Durée: 5 heures

L’usage de tout dictionnaire est interdit.

GRENZÜBERGÄNGE

Julia Franck erinnert sich an den Sommer des Jahres 1986. Sie war damals in der 10. Klasse, die einen letzten gemeinsamen Ausflug machen sollte.

Der Ausflug, kündigte die Westberliner Klassenlehrerin an, führe uns nach Sachsenhausen, in das ehemalige Konzentrationslager. Was, in den Osten ? Die Schüler rollten mit den Augen, sie maulten und stöhnten, mancher kicherte und machte spontan einen Witz : Da kommste doch her ! Einer grinste den anderen an und grölte, der andere antwortete nur : Wer hat denn hier die ostigen Turnschuhe ? Entsprach einer nicht der Norm, wurde unter Westberliner Schülern gespottet : Du kommst wohl aus dem Osten, wa ? Hatte einer hässliche oder nur der Mode nicht entsprechende Kleidung an, so hieß es : Sieht der ostig aus.

Seit drei Jahren war ich in dieser Klasse und hatte es geschafft, meine Herkunft zu verheimlichen. Keineswegs wollte ich im Schlaglicht des Gespötts stehen. Sollten sie nur Witze über Juden machen, ich verriet keinerlei Bezüge, sollten sie nur Witze über Ostler machen, ich schwieg eisern. (…)

Weiter ging der Unterricht, Sachsenhausen, das Konzentrationslager, das Grauen, die Morde, der Wahn, der Krieg, die Alliierten, die Befreiung, die Teilung, Deutschland, Berlin. Die Lehrerin ließ von allen Kindern Formulare ausfüllen, denn so ein Klassenausflug wollte gut vorbereitet werden. Drei Wochen später kam der befürchtete und erwartete Tag. Ich hatte mir die fünfundzwanzig Mark für den Zwangsumtausch in das Portemonnaie gesteckt. Tagesgeld hieß es. Ich wusste, wie schwer es war, das Geld auszugeben, und überlegte, ob es zurzeit wohl Klaviernoten von Beethoven gebe, die waren mir im Westen und in meinem Leben kostbar. Aber es war fraglich, ob wir an einer Notenhandlung vorbeikommen würden. Als ich mit dem Fahrrad an der Schule ankam, sah ich zuerst das Gepäck meiner Mitschüler. Prall gefüllte Umhängetaschen, Rucksäcke, Reisetaschen. Hatte ich etwas falsch verstanden ? Sollten wir übernachten, handelte es sich um keinen Tagesausflug ? Ich spitzte die Ohren, doch von übernachtung war keine Rede. Erst als wir später im Bus saßen, begriff ich, warum sich die anderen mit solchen Gepäckstücken beladen hatten. Die Witze hörten nicht auf. In dem Tagesgepäck meiner Mitschüler befanden sich neben Walkmen, die der Unterhaltung auf der Fahrt nach Sachsenhausen dienen sollten – Neue deutsche Welle wurde gehört, 99 Luftballons, ich seh den Sternenhimmel und düse im Sauseschritt – Butterbrote, dick bestrichen mit Leberwurst und Nutella, Caprisonne, Wasserflaschen, Bananen, gewaschene Weintrauben in durchsichtigen Frischhaltetütchen, Schokoladenriegel. Erst als die Konservendosen zum Vorschein kamen, Cornedbeef und Sauerkraut, mehrere Jungs ihr Besteck und ihre Taschenmesser verglichen, ein Junge den Dosenöffner ansetzte und die dauergewellten Mädchen in der letzten Reihe sich kichernd die Nase zuhielten und auf ihre Würstchen im Glas verwiesen, begriff ich den Ernst der Lage. Meine Mitschüler, dreißig sechzehnjährige Westberliner, von denen außer mir ein einziger jemals die wenige Kilometer entfernte Grenze überschritten hatte, um Verwandte zu besuchen, fürchteten, dass es im Osten nichts zu essen gebe. Bei uns. In dieser Zeit konnte ich nicht sagen, wo das war. Sie hatten aufblasbare Kopfkissen und zwei Mädchen hatten für alle Fälle ihre Schlafsäcke mitgebracht : Wer weiß, was einem im Osten geschah. Gut, die Klassenlehrerin sprach von einem Ausflug, es hieß, man kehre geschlossen als Klasse gegen 18.00 nach Spandau zurück, aber man konnte ja nicht wissen.

Beladen mit ihren Rucksäcken und Sporttaschen, aus denen im Verlauf des Nachmittags zwischen den Baracken von Sachsenhausen auch Tüten mit Gummitieren und Coca-Cola auftauchten, verstohlen Zigarettenpäckchen zutage gefördert wurden, um sich hinter der Museumsbaracke eine Camel anzuzünden und eine Selbstgedrehte zu rauchen, sprachen die Jugendlichen meiner 10. Klasse auf der Rückfahrt schließlich nur noch über die bevorstehenden Sommerferien : Ein Mädchen fuhr mit ihrer Familie nach Florida und wurde von den anderen eifrig beneidet, die nur an die Riviera und nach Tirol reisten.

Als drei Jahre später die Mauer fiel, konnte ich die Euphorie der West- und Ostdeutschen kaum glauben. Ich traute meinen Augen und Ohren nicht, wochenlang, monatelang. So wenig hatten die Menschen im Westen vom Osten wissen wollen, dass bei allen Möglichkeiten und Gelegenheiten, die sich boten, von dreißig Westberliner Familien gerade einmal zwei ihre Brüder und Schwestern im Osten besucht hatten. So sehr hatten die Menschen im Osten an die im Westen geglaubt, so sehr auf den Westen gehofft, sich ihm so jubelnd an den Hals geworfen, dass mir schlecht wurde. Ganz abgesehen von der Folklore, die beide Seiten Deutschlands mit dem jeweils anderen Staatssystem betrieben.

Julia FRANCK, Die überwindung der Grenze liegt im Erzählen, Vorwort zu : Grenzübergänge – Autoren aus Ost und West erinnern sich, (hrsgg. von Julia Franck) Fischer Verlag, 2009

A. Questions:

Les candidats se conformeront au nombre de mots indiqué pour chaque question.

1. Welche besondere Stellung hat die Ich-Erzählerin in der Klasse ? (100 Wörter)

2. Analysieren Sie die Reaktion der Schüler auf den Vorschlag, einen Klassenausflug nach Sachsenhausen zu machen. (100 Wörter)

3. Analysieren Sie die Lernziele, die sich die Lehrerin im Unterricht gesetzt hat. (150 Wörter)

4. Analysieren Sie das Verhalten der Schüler beim Besuch in Sachsenhausen. (150 Wörter)

5. Was meint die Ich-Erzählerin, wenn sie sagt, sie begreife « den Ernst der Lage » ? (150 Wörter)

6. Analysieren Sie die Gefühle der Autorin, « als drei Jahre später die Mauer fiel ». (150 Wörter)

B. VERSION

Traduisez le dernier paragraphe du texte.


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